Erklärung zur heutigen Abstimmung des Infektionsschutzgesetzes

Ich habe die vergangenen Tage (und Nächte) sehr mit der Frage gerungen, wie ich über die Änderung eines Gesetzes abstimmen kann, bei dem viele unserer Forderungen aufgenommen wurden, manche Punkte aber auch nicht. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich das Glas eher als etwas voller als halbleer ansehe. Ich habe daher heute den Änderungen im Infektionsschutzgesetz zugestimmt.

Alles in allem halte ich es für sinnvoller, ein bestehendes Gesetz an die aktuellen Herausforderungen anzupassen und zu verbessern, als es unverändert und in unzureichender Form weiter gelten zu lassen. Es ist als Opposition sicher einfacher, sich gar nicht erst am Verhandlungsprozess zu beteiligen, Fundamentalkritik zu üben und sich schließlich aus der Verantwortung zu stehlen. Mein Anspruch an Politik ist ein anderer. Mir ist es als Oppositionspolitikerin immer wichtig, konstruktiv an Verbesserungen von Gesetzen mitzuwirken. Ich übernehme damit Verantwortung, was gerade in Zeiten der Krise wichtig ist, auch wenn ich dafür oft den unbequemeren Weg wählen muss.

Viele Menschen haben mir im Vorfeld ihre Sorge bezüglich der Gesetzesänderung mitgeteilt. Und ich habe vor den abschließenden Beratungen noch geantwortet, dass ich den ursprünglichen ersten Gesetzentwurf kritisch sehe und so nicht unterstützen könne. Daher möchte ich erklären, warum ich meine Haltung geändert habe.

Um eines vorwegzunehmen: Die Sorge, mit der Gesetzesänderung würde das Land in eine Diktatur rutschen, in der die Menschen der Willkür des Staates ausgesetzt seien, teile ich ausdrücklich nicht. Denn die bisher geltenden Gesetze schaffen eben nicht die notwendige Rechtssicherheit, die es in einer solch außergewöhnlichen Zeit, wie wir sie gerade erleben, braucht. Die Alternative wäre doch, das Gesetz in seiner jetzigen Fassung zu belassen. Das halte ich für die schlechtere Variante.

Das Infektionsschutzgesetz wird einhellig als veraltet angesehen und ist nicht für ein Pandemiegeschehen wie die Corona-Krise ausgerichtet. Das gesamtgesellschaftliche Leben ist aktuell mit rechtlichen Geboten und Verboten überzogen, die tief in die Grundrechte der Bürger eingreifen (Betriebsschließungen, Beschränkungen von Demonstrationen, Besuchsverbote für Angehörige in Heimen etc.). Diese Eingriffe stützten sich bisher auf wenige dürre Worte in § 28 IfSG und waren als Maßnahmen gegen Gefahrenträger (z.B. Infizierte) und gefährliche Orte (Brutstätten von Krankheiten) gedacht, die die Regierung erlassen darf. Das ist ein Problem: Das Demokratiegebot und der Rechtsstaatsgrundsatz fordern, dass der Gesetzgeber – das Parlament – selbst die wesentlichen Fragen gerade bei Grundrechtseingriffen klar und bestimmt regelt.

Die grüne Bundestagsfraktion hat lange dafür gekämpft, dass der Bundestag darüber entscheidet, welche Maßnahmen unter welchen Voraussetzungen erlassen werden dürfen und dass nicht die Exekutive – also Bundes- oder Landesregierungen – am Parlament vorbei entscheiden. Auch die Gerichte teilen unsere Auffassung, dass die bisher bestehenden Landesverordnungen eine ausreichende, vom Parlament beschlossene Grundlage brauchen. Diese schaffen wir nun. Wir verbessern also die Beteiligung der gewählten Abgeordneten und vergrößern den Einfluss des Parlaments auf die Maßnahmen. Die Bekämpfung der Pandemie wird demokratischer und rechtssicherer. Das Parlament hat daher festzulegen, unter welchen Voraussetzungen die Länder in ihren Infektionsschutzverordnungen überhaupt nur in Grundrechte eingreifen dürfen.

Mit dem neuen § 28a soll nun klarer geregelt werden, unter welchen Bedingungen in Grundrechte zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens eingegriffen werden darf. Es geht also um die Abwägung verschiedener, kollidierender Grundrechte. Durch Gesetze kann und wird immer wieder in Grundrechte eingegriffen. Dafür bedarf es konkreter vom Parlament beschlossener Rechtsgrundlagen, die die Voraussetzungen, den Zweck und die Grenzen für solche Eingriffe regeln. Daran fehlte es bisher. Mit dem neuen Paragraphen § 28a IfSG beschreiben wir den Rahmen, innerhalb dessen Bundesregierung und Landesregierungen agieren können. Wir hätten diese Grundlage gerne früher geschaffen, aber die Koalition war dazu nicht bereit. Schon seit Mai drängen wir auf eine stärkere Einbindung des Parlaments. Und von Anfang an haben wir einen einheitlichen Rahmen gefordert, Anwendung je nach Infektionsgeschehen.

Wir haben als Grüne folgende Änderungen erreicht:

Rechtsverordnungen müssen begründet werden und sind auf 4 Wochen befristet. So wird sichergestellt, dass neue Entwicklungen berücksichtigt werden und zeitnah geprüft wird, ob eine Aufrechterhaltung verhältnismäßig wäre. Die Eingriffsbefugnisse des neuen § 28a IfSG sind an die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Bundestag gebunden. Hebt der Bundestag die nationale Pandemielage auf, sind die besonderen Schutzmaßnahmen nach § 28a nicht mehr anwendbar. Die Feststellung und Aufhebung der nationalen Pandemielage durch das Parlament erfolgen jetzt nach einer gesetzlichen Definition in § 5 IfSG. Danach liegt eine nationale Pandemielage vor, wenn die WHO eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite ausruft und die Einschleppung nach Deutschland droht oder eine dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen Krankheit über mehrere Länder in Deutschland droht. Während ihrer Dauer wird eine mündliche Berichtspflicht der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag eingeführt. Wenn Bundesländer wegen lokal fortdauernden Infektionsgeschehen über die epidemische Lage von nationaler Tragweite hinaus Maßnahmen ergreifen, müssen diese von den Landesparlamenten beschlossen werden.

Der Zweck der Maßnahmen – Schutz von Leben und Gesundheit sowie Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens – haben wir näher konkretisiert. Beschränkungen und Untersagungen von Kulturveranstaltungen werden nicht mehr gleichranging mit Einschränkungen von Freizeitveranstaltungen, genannt. Damit wird dem besonderen verfassungsrechtlichen Rang von Kunst und Kultur Rechnung getragen. Zudem werden verschiedene Entschädigungen geregelt, z.B. beim Ausfall von Kinderbetreuung.

Generelle Ausgangsbeschränkungen sind nicht möglich, sondern nur – unter erhöhten Voraussetzungen – Beschränkungen des Ausgangs zu bestimmten Zeiten oder Zwecken.

Die Kontaktdatenverarbeitung ist auf den Zweck der Nachverfolgung von Kontaktpersonen zur Eindämmung der Verbreitung der Infektion beschränkt, ebenso die Weitergabe. Die Löschungsfrist beträgt 4 Wochen.

Wir haben durchgesetzt, dass ein Mindestmaß an sozialen Kontakten gewährleistet werden muss. Besuchsbeschränkungen in Alten-/Pflegeheimen, Geburtshilfestationen oder Krankenhäusern für enge Familienangehörige sind nur unter erhöhten Voraussetzungen zulässig. Solche Beschränkungen dürfen nicht zur Isolation von Personen oder Gruppen führen.

Die Untersagung von Versammlungen und Zusammenkünften, die unter dem Schutz der Religionsfreiheit stehen, ist nur unter erhöhten Voraussetzungen und nur dann zulässig, wenn andere Schutzmaßnahmen nicht ausreichend sind.

Krankenhäuser und Reha-Einrichtungen erhalten einen im Vergleich zum Frühjahr modifizierten finanziellen Ausgleich, wenn sie infolge der Pandemie und zur Freihaltung von Intensivbetten auf Behandlungen verzichten. Besonders gefährdete Menschen erhalten zudem einen Anspruch auf kostengünstige Versorgung mit Masken eines höheren Schutzgrades (FFP2). Personen, die nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, sollen wie gesetzlich Versicherte einen Anspruch auf Testungen sowie Schutzimpfungen/Prophylaxe und Testungen für den Nachweis einer Infektion haben.

Darüber hinaus fordern wir in unserem Änderungsantrag:

Der Zusammenhang zwischen Infektionsgeschehen und möglichen Maßnahmen sollte stärker ausgestaltet sein. Im Entwurf der Bundesregierung werden die Maßnahmen nicht konkret bestimmten Schwellenwerten zugeordnet, sondern es wird lediglich zwischen „unterstützenden“, „breit angelegten“ und „umfassenden“ Maßnahmen unterschieden, die an den jeweiligen Inzidenzwerten anknüpfen.

Wir hätten weitere Klarstellungen für sinnvoll gehalten, etwa dass das Kindeswohl noch stärkere Berücksichtigung findet und dass ein Mindestmaß an sozialen Kontakten natürlich auch außerhalb von Heimen und Krankenhäusern möglich sein muss. Bei Kontakt- oder Reisebeschränkungen müssen Ehepartner*innen, Paare und Familien sich auch noch über Grenzen hinweg sehen und treffen können. Die Begründungspflicht gegenüber dem Parlament ist nun enthalten, bleibt aber hinter unseren Erwartungen zurück.

Wir sprechen uns seit langem für die Einrichtung eines interdisziplinär besetzten wissenschaftlichen Pandemierates aus, um Empfehlungen für eine Strategie für die kommenden Monate sowie Konzepte für allgemeine und zielgruppenspezifische Präventions-Kommunikationsmaßnahmen entwickeln zu können. Die Chance, ein solches Gremium gesetzlich zu implementieren, hat die Koalition mit diesem Gesetz leider nicht genutzt.

Darüber hinaus hätten wir es für sinnvoll gehalten, wenn auch bei der Finanzierung der Corona-Tests ähnlich wie jetzt bei den Schutzimpfungen die private Krankenversicherung einbezogen worden wäre, statt einseitig weiterhin die kompletten Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu übertragen.

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