Gastbeitrag in chrismon: Lotte aus der Dachwohnung

In der chrismon-Ausgabe 12.2019 habe ich folgenden Gastbeitrag zu generationenübergreifendem Wohnen in Mainz in Zeiten steigender Wohnungsnot geschrieben. Sie können ihn auch hier bei chrismon direkt nachlesen.

Früher kümmerte sich Lotte um Tabea Rößners kleine Töchter. Und als sie gestorben war und die Mädels aus dem Haus, da zog Tabea selbst nach oben.

Vor 24 Jahren zog ich mit meiner kleinen Familie nach Mainz. Unsere Tochter war gerade drei Monate alt, wir konnten in das Urgroßelternhaus meines Mannes in der Oberstadt ziehen, Baujahr 1928, mit Garten. Als ich es sah, dachte ich: Wenn ein Haus, dann so eines! Es war heruntergekommen – und trotzdem schön. Die Fenster waren groß – aber einfach verglast. Es war charmant – aber die Stromleitungen steckten in Stoffisolie­rungen.

Unterm Dach wohnte Lotte, 81 Jahre alt. Sie war mal Opernsängerin gewesen, aber seit den 50ern ohne Engagements. Kinder hatte sie keine. Zu unserer Tochter hatte sie gleich einen Draht. Sie dachte, dass wir das ganze Haus nutzen wollten und sie ausziehen müsste, zumal sie keinen separaten Eingang hatte. Aber das Haus war groß genug, und so süß Lotte mit der Kleinen war, so süß war sie eingerichtet. Das wollten wir ihr nicht nehmen. Wir bekamen noch eine weitere Tochter.

Diese Hausgemeinschaft war für alle ein großer Glücksfall. Lotte war dankbar, dass sie bleiben konnte. Und ich war dankbar, dass sie da war. 
Ihre Tür stand immer offen. Die Kinder durften bei ihr so ziemlich alles, selbst übernachten. Sie hat ihnen viel erzählt und beigebracht, häkeln zum Beispiel. Mir stärkte sie den Rücken, als mein Mann und ich uns trennten. Ich war damals ehrenamtlich aktiv, als Vorsitzende des Kinderhauses und im Stadtrat. Und ich arbeitete freiberuflich als Journalistin. War ein Kind krank, hätte ich an dem Tag kein Geld verdient. Lotte sprang ein. Sie war immer für uns da und wir für sie. Irgendwann feierten wir alle Feste zusammen. Später konnte ich ihr etwas zurückgeben, indem ich mit ihr und dann für sie einkaufte.

2009 wurde ich in den Bundestag gewählt. Während der Sitzungswochen in Berlin kümmerte Lotte sich um Haus und Kinder, wenn sie nicht bei ihrem Vater waren. Und sie versorgte die Katze. Drei Jahre später brach sie sich einen Wirbel. Wir organisierten eine Haushaltshilfe und pflegten sie gemeinsam.
Im Juni 2013 fuhr ich mit Sorge nach Berlin. Ich hatte schon Kontakt zu einem Palliativteam aufgenommen. Am Telefon fragte ich: „Lotte, soll ich kommen?“ „Nein“, sagte sie. Aber ich hörte an ihrer Stimme, dass ich sofort losmusste. Auch meine Töchter kamen. Als Lotte mich sah, kuschelte sie sich wie ein Kind auf meinen Schoß. Sie wurde 98 Jahre alt.

Ein paar Wochen vor ihrem Tod hatten wir sie gefragt, ob wir ihr Bett so stellen sollten, dass sie fernsehen konnte. Sie war sehr am Zeitgeschehen interessiert. Aber sie wollte nicht. Vom Bett aus sah sie den Wipfel eines Baumes, sie liebte diesen Blick. Kurz bevor sie starb, flüsterte sie: „Tabea, da sind die Vögel.“ Sie meinte Wiesbadener Papageien, grüne Vögel mit rotem Schnabel. Ich schaute raus, sah aber keine. Als Lotte abgeholt worden war, setzte ich mich in den Garten. Drei dieser Vögel flogen über mich hinweg. Wir haben Lotte in einem Friedwald beerdigt, weil sie Bäume liebte.

In den Jahren nach Lottes Tod habe ich das Haus von Grund auf sanieren lassen. Die Wohnung unterm Dach bekam eine Außentreppe und eine Gaube. Das Haus strahlt nun wieder in hellem Blau, und das Dach ist leuchtend rot. Aber der Garten – der war leer. Mir war wichtig, dass dort wieder Kinder spielen. Also bin ich unters Dach gezogen, in Lottes Wohnung. Die fünf Zimmer unten habe ich an eine Familie vermietet, die Kinder sind acht, zehn, zwölf und fünfzehn Jahre alt. Im Garten steht ein Trampolin, es ist immer was los. Wenn ich in Mainz bin, trinken wir gern Kaffee zusammen, und meine Mieter schauen oben bei mir vorbei oder ich unten. Im Sommer sitzen wir bei einem Glas Wein draußen oder machen gemeinsam Gartenarbeit.

Es kommt vor, dass mich Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag auf diese Lösung ansprechen, partei­übergreifend. Aber mir ist niemand bekannt, der es nachmacht. Meinen Mietern gegenüber sehe ich mich auch gar nicht als Politikerin, sondern immer noch als die Tabea, die ich immer war. Nur gibt es eben viele Häuser, in denen ältere Ehepaare wohnen. Ihre Kinder sind ausgezogen. Manch älterer Mensch sitzt auch allein in einem Haus. Einsamkeit ist ein großes Thema unserer Zeit, Wohnungsnot ein zweites. Mein Modell kann man nicht politisch verordnen, aber ich hoffe, dass ich Nachahmer finde. Lotte hat mir die Angst vor dem Altwerden genommen und ist bis zum Ende mitten im Leben geblieben. Und da bin ich jetzt auch.

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  1. Ursula Zwanzger

    Liebe Tabea, Du wirst kaum mehr wissen, wer ich bin: Ursula Zwanzger, früher in der „Consens“-Redaktion, ich war auch mit Dir und Traudel Buchholz von MZ-Lerchenberg in Berlin (in der Zeitung ausgeschrieben), habe lange regelmäßig Deine Nachrichten gelesen, die ich aber nicht mehr bekomme (?), habe jetzt den Crishmon-Artikel „Lotte….“ mit gr. Freude gelesen und danke Dir dafür. Bei der Ebling-Nachfolge habe ich Dir Daumen gedrückt!!
    Ich wünsche Dir ein frohes (und auch geruhsames) Weihnachtsfest und fürs Neue jahr alles,alles Gute!Ihr Grünen habt ja wirklich viel bewirkt; ich lebe seit 3 Jahren im Kretschmann-Land Ba-Wü in einer Seniorenresidenz „Schloss Stetten“/Künzelsau und fühle mich recht wohl und bin noch nicht blind geworden (fortgeschrittener „Grüner Star“). Unser Baron Dr. Wolfgang von Stetten war CDU-Abgeordneter in Bonn und Berlin. Jetzt ist sein Sohn Christian v. Stetten sein Nachfolger, ein Merz-Anhänger! Ich drücke für AKK die Daumen! Die PKW-Maut ist ja gründlich daneben gegangen!!Du warst ja nie ein Fan von Scheuer!! Herzliche Grüße von Ursula (Zwanzger, früher MZ-Lerchenberg).

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